Im Zuge des technologischen Fortschritts dringt die künstliche Intelligenz (KI) unaufhaltsam in alle Bereiche des Lebens und der Wirtschaft vor. Insbesondere die Versicherungsbranche steht vor der Herausforderung, sich mit den Potenzialen und Risiken dieser Revolution auseinanderzusetzen. In dieser Interviewreihe diskutieren renommierte Experten über die strategische Ausrichtung in Bezug auf KI im Versicherungswesen. Von der Bewertung der aktuellen Situation bis hin zur Entwicklung praktischer Handlungsstrategien werden wichtige Aspekte beleuchtet, die für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit von Versicherungsunternehmen entscheidend sind.   

René Pausch: Hallo Nico! Schön, dass wir dich heute in diesem Interview-Format begrüßen dürfen. 

Nico Greiner: Vielen Dank für die Einladung. Ich freue mich heute über mein Lieblingsthema sprechen zu können. 

Matthias Blum: Dann lasst mich mal den Bogen spannen. In unserer Serie ging es bisher bereits um strategische und technische Fallstricke für den Einsatz von KI bei Versicherern. Eine klare Botschaft aus allen bisherigen Interviews war: Daten stehen im Mittelpunkt der langfristigen und gewinnbringenden Nutzbarkeit. Du und deine Unit beschäftigen sich mit Input-Management, insbesondere im Bereich Dokumenten-Management. Hole uns gerne ab, was das genau bedeutet, bevor wir uns auf die Zusammenhänge mit KI stürzen. 

Nico Greiner: Ich bin heute euer Kreuzfahrt-Kapitän der Dokumentenverarbeitung. Kommt alle an Bord; Es geht direkt los:  

Alle Versicherer haben einen Posteingang – nicht nur für physische Post, sondern auch für diverse elektronische Kanäle. Das Inputmanagement befasst sich mit der Frage: Wie erfasse ich Informationen, die mich auf verschiedenen Kanälen erreichen? Wie verarbeite ich sie, wie speichere ich sie und wie liefere ich Antworten dann wieder aus? 

Das ist dann Output-Management. Insgesamt betrachtet nennt man das „Document-LifeCycle“. In der Mitte dieses Vorgangs sind Integrations-Elemente und Bestandsführungssysteme. Diese durchläuft das Dokument als Träger von Informationen. In der Vergangenheit war es immer so, dass wir einen regelbasierten Posteingang hatten. Das heißt, es gab Dokumentenklassen. Je nach Komplexität der Dokumente und ob es eine OCR (Optical Character Recognition) gab, die Attribute ausgelesen hat, und zwar ohne Kontext. Oft wurde nur ein Attribut aus diesen Daten genommen und aufgrund der Dokumentenklasse und dieses Attributs entschieden, wer dieses Dokument bekommt. Zum Beispiel: Das Dokument ist vom 26.03. aus der Kategorie Schadensmeldung. Dementsprechend wurde es einem Sachbearbeiter zugeteilt, entweder über eine Software-Weiche oder über Entscheidungstabellen. 

Arbeiten das hat sich in den letzten 3 Jahren maßgeblich verändert. Alle führenden Posteingangssysteme haben heute Handschrifterkennung, bedeutet sie enthalten bereits KI-Elemente. Ein Klassiker ist: Ich kündige an, dass ich meine Adresse ändern möchte. Bei diesem Beispiel würde in der Dokumentenklasse immer sofort von einer Kündigung gesprochen, weil das Programm das „kündige“ in „ankündigen“ sieht. Ein großartiges Beispiel für die Relevanz von Kontext. 

 
Heute liest die KI in einer Posteingangs-Software den Kontext und erkennt „hiermit kündige ich an, dass ich die Adresse ändern werde“, das heißt, es geht um eine Adressänderung und nicht um eine Kündigung. Das ist die maßgebliche Veränderung. 

 
Das zweite ist, dass man früher feste Attribute gesetzt hat. Also wenn irgendwas kam, wo die Versicherungsnummer nicht enthalten war, wenn irgendwelche Transaktionsnummern oder irgendwelche anderen Zahlen bzw. Attribute nicht enthalten waren, konnte das Dokument nicht automatisiert ausgelesen werden. 
Heute reicht es durch den interpretierbaren Kontext, wenn der Name, ein Teil einer Versicherungsnummer, oder ähnliches vorhanden ist, um das Dokument auszulesen. Wir haben KI-Systeme, die durch das natürlichere Lesen des Dokumentes und nicht nur durch das Rauspicken von Attributen, viel besser eine valide Einschätzung liefern können. 

 
Wieder zu einem Geschäftsvorfall: Meine Oma schreibt ihrer Versicherung einen Brief. Sie hat wieder mal einen Brillenschaden gehabt, weil sie irgendwo gegen gekommen ist. Man stelle sich vor, dass es vor 2 Jahren bereits einen gemeldeten Schaden gab und man findet heute im Input Management dazu ein Dokument. 
Dann könnte es heißen: Sehr geehrte Frau Sobletzki, ihr Schaden ist wie folgt reguliert und wir nehmen auch den Schaden von 2019 noch mit auf, weil wir sehen können, dass der wahrscheinlich aus einem uns bereits bekannten Ereignis resultiert ist. Sie kriegt also wieder ein Dokument zurück, was auf ihren speziellen Fall gemünzt ist. Heute sagt man Kontext-Kommunikations-Management dazu. 
Das heißt also, dass wir den Kontext der Person frei von etwaigen Serienbriefen machen, und das ist der Riesenunterschied, der mit KI heute möglich ist. Es erlaubt eine viel größere Individualisierung. 

 
Das zweite ist, wenn wir über Formulare reden. Das ist mein Lieblingsbeispiel: 
In Deutschland gibt es viele Amtsgerichte, die Pfändungen machen. Die haben alle den Sachverhalt der Pfändung, aber das Dokument sieht jedes Mal anders aus. Früher hätte man dafür viele Dokumentenklassen gehabt von Kempten bis Siegburg über Flensburg. Man hätte viele Dokumentenklassen anfordern müssen, damit die Eingangssoftware in der Lage gewesen wäre zu erkennen, ob das zugrundeliegende Dokument eine Pfändungsurkunde des Amtsgerichts Kempten im Allgäu oder aus Kiel ist. Heute ist KI dazu in der Lage, das zu lernen. Im Kontext von Dokumenten beutetet das: Sie lernen praktisch, wie sowas aussieht und können es auf Pixelebene wiedergeben. In der Praxis bedeutet das, das System vergleicht ein Dokument und zu 90,9% ist es das Amtsgericht Kempten, weil in der Tabelle dieses eine Attribut an einer bestimmten Stelle steht, das macht es natürlich deutlich einfacher. Früher war es tatsächlich so, dass dafür immer wieder neue Dokumentenklassen angelegt werden mussten. Mit der Erkennung wird eine neue Schablone angelegt und das ist der Riesenunterschied in der Dokumentenverarbeitung durch KI. 

 
Matthias Blum: Vielen Dank für deine Ausführung. Ich glaube, ich habe einen sehr guten Überblick bekommen. Das nimmt uns ein Thema schon direkt vorweg, in das ich kurz ein bisschen tiefer einsteigen möchte: Use Cases.  Kleine Use Cases, um zu üben.  
Wie du gesagt hast, wir sind seit 34 Jahren in diesem Bereich unterwegs. Ich habe das Thema tatsächlich schon vor 6 oder 7 Jahren gehabt, damals noch bei HDI. Mit anderen Worten, insbesondere im Input Management ist die Übungsphase mit KI schon lange vorbei, richtig? 

 
Nico Greiner: Richtig, aber was jetzt in den letzten knapp fünf Jahren richtig angekommen ist, ist die große Projektwelle, die nach der Innovation kommt. Als ich angefangen habe, mit Versicherern zu arbeiten, waren die Themen Dokumentenverarbeitung und Input-Management unsexy. 

 
Man konnte damals keine riesigen Skalierungseffekte realisieren. Heute geht das! Und da hängen inzwischen viele weitere Themen dran. Man kann heute viel mehr Daten zusammenhängend auswerten. Dafür ist die Datenqualität dann wiederum sehr entscheidend. 

 
Deshalb geht es auf den ganzen Konferenzen, zum Beispiel in Leipzig, auch immer um Input Management. Darum ging es früher nie. Bei dem Wunsch nach mehr Dunkelverarbeitung und weniger manuellen Eingriffen spielt insbesondere das Input-Management eine entscheidende Rolle.  
Wenn ich in der Lage bin, Dokumente automatisch voll zu erkennen, den Sachverhalt auch dunkel zu verarbeiten, zum Beispiel eine Adressänderung, und dann am Ende sogar den Dokumenten-Output dunkel zu produzieren, digitalisiere ich ganze Geschäftsprozesse. Das ist etwas, das insbesondere von Vorständen und Vorstandsreferentinnen und -referenten, mit denen ich spreche, sehr viel Aufmerksamkeit bekommt. 

Und das ist genau unser Thema. Wir wollen vom Input, über Verarbeitung, Speicherung, Postausgang, und Archivierung, Vorteile durch gute Dokumentenverarbeitung erzielen.  

René Pausch: Du hast eben von den Vorstandsreferentinnen und -referenten gesprochen, die sich natürlich 100% Dunkelverarbeitung und verständlicherweise eine 100% Treffsicherheit bei der Erkennung des Inputs wünschen. Wie weit sind wir denn heute beim Thema Input Management? Insbesondere, weil von der gesteigerten Datenqualität am Ende auch Data Scientists und Fachbereiche profitieren, die KI einsetzen wollen. 

 
Nico Greiner: Der regelbasierte Posteingang funktioniert zu 75 – 80%. Etwa 20% sind immer noch manuell nachzubearbeiten. Wir haben heute mit einem der Kunden Quoten, die liegen so bei 86 – 87%; das ist aber nicht ganz repräsentativ, weil es nur eine fachliche Fragestellung behandelt.  

Interessant ist dort auch wieder Skalierung. Wenn ich als ein normalgroßer Versicherer 700.000 Schreiben im Jahr bekomme und es jetzt schaffe die Posteingangserkennungsquote nur um 3% zu steigern rede ich von 35.000 Schriftstücken mehr, die nicht mehr manuell nachbearbeitet werden müssen. Das sind immense Kosteneinsparungen. Im Normalfall ist diese Nachbearbeitung extrem teuer. 

Man kann sich leicht vorstellen, dass große Versicherer, die eher Richtung fünf bis sieben Millionen Schreiben pro Jahr bekommen, nochmal deutlich stärker profitieren. 

Auch die setzen alle Software ein.  Die Amortisationsrechnung ist dort in wenigen Minuten abgehandelt. Wenn wir es schaffen, die Dunkelverarbeitung dort um 3% zu steigern und rechnen mit Projektkosten von zum Beispiel 250.000€, weil wir da eine Software einführen oder ablösen und einige kleine Stellschreiben justieren. Bei 5,5 Millionen Schreiben jedes Jahr bedeutet das, wenn wir die Dunkelverarbeitungsquote um 3% steigern, dass die Prozesskostenersparnis gigantisch hoch ist. 

 
Ein zweiter Themenbereich, der viele Unternehmen beschäftigt ist: Wie kriegen wir mehr papierlose Korrespondenzen verwirklicht? Und die Motivation ist in der Regel nicht, weil man jetzt extrem umweltfreundlich sein will, sondern aufgrund der Kosten, die daraus entstehen. Porto, Frankieren, Druck, Papier, alles das ist teurer geworden. Nach Corona ist Papier um 46% im Preis gestiegen. Wenn man die maximale Rabattierung der Deutschen Post hat, bezahlt man im Augenblick 0,58€ pro physischen Brief oder ein digitales Porto von 0,17€. Das macht pro Brief 0,41€ Unterschied aus. Wenn man jetzt weiß, dass diese Versicherer etwa 5.000.000 Briefe verschicken, wird schnell klar, warum das Thema so relevant ist. Und das schon vor jeder Überlegung, wie andere Bereiche von dieser Entwicklung zusätzlich profitieren. 

René Pausch: Bei dem Thema Datenversorgung anderer Bereiche haben wir mit Gerrit Götze im vorherigen Interview darüber gesprochen, „Golden Records“ zu erzeugen. Also Datensätze, die qualitativ einwandfrei sind. Kannst du vielleicht aus deiner Erfahrung schildern, wie fehlerbehaftet die Daten vor und nach der Optimierung und Automatisierung des Input-Managements sind? Für den Einsatz von KI-Lösungen ist es natürlich spannend zu verstehen: wie sehr kann ich meine Datenqualität fördern, wenn ich mein Input-Management richtig anpacke? 

 
Nico Greiner: Guter Punkt, denn das Thema Fehlerquote ist sowohl im Posteingang als auch im Postausgang ein Riesenthema. Am Ende ist es ein großer Mehrwert, wenn die Versicherung beim Kfz-Jahresendgeschäft saubere Datensätze hat und je höher diese Qualität der Datensätze ist und je unabhängiger vom Format sie ist, desto mehr Möglichkeiten ergeben sich für eine gute Dunkelverarbeitung, Analysen und auch KI-Anwendungsfälle. 
 
Ein Beispiel: Amazon treibt die Vollautomatisierung ihrer Geschäftsprozesse nicht, weil sie Digitalisierung einfach nur super finden.  
Die wissen, dass mit jeder Minute, die zwischen dem Impulskauf und der Lieferung einer Jacke vergeht, die Wahrscheinlichkeit steigt, dass es zu einer Stornierung kommt. Da sind sie so wahnsinnig schnell, weil die genau wissen, dass die meisten Käufe Impulskäufe oder emotionale Käufe sind. Je länger es dauert, bis das Ding bei mir zu Hause ist, umso weniger will ich es eigentlich haben. 

 
Die Versicherer müssen versuchen, an ein spontanes Sicherheitsbedürfnis sofort anknüpfen zu können. Das geht nur, wenn die Prozesse deutlich schneller laufen als heute. Und am besten mit geringer Fehlertoleranz dunkel verarbeitet werden können. 

 
René Pausch: Dazu lässt sich ergänzen, dass man mit der richten Datenqualität und Predictive Analytics, den es eben im CRM-System heute schon gibt, zusätzlich Bedarfe erkennen kann, die vom Kunden gar nicht ausdrücklich formuliert werden. Erst, wenn die Ansprache mit dem Angebot über den richtigen Kanal kommt, wird dem Kunden klar, dass er dieses Produkt gerade braucht. Auch das macht Amazon und Google sehr stark auf der vertrieblichen Seite. 

 
Nico Greiner: Ja, absolut. Das bringt mich auf den Begriff Konversionsrate. Konventionell misst man damit, wieviel Kundenkontakte in einem Kauf münden. Wir benutzen den Begriff auch bei der Frage, wie sehr das Angebot genutzt wird, von physischer Post auf digitale Benachrichtigungen umzusteigen. Wir haben Projekte, in denen die Konversionsrate auf über 70% gesteigert werden konnte. Nur, weil das Dokument online vorausgefüllt bereitgestellt werden konnte. Und das Wechseln war auch kein Problem, weil ein QR-Code auf dem Brief direkt dazu eingeladen hat. Da merkt man als Versicherer, insbesondere vor dem Hintergrund der zukünftigen Demographie, dass hier viel möglich ist. 

 
Matthias Blum: Wir sind uns also einig, dass das Input Management ein guter Ort ist, um anzufangen, die Daten vernünftig glatt zu ziehen bzw. nutzbar zu machen. Zum Beispiel für Anwendungsfälle im Vertrieb? 

 
Nico Greiner: Ja, und zwar direkt und indirekt. Wenn das Input-Management erstmal richtig funktioniert, kann man auch darüber nachdenken, zu jedem Antwort-Brief ein entsprechendes, individuelles Angebot zu verschicken. Heute legt man oft nach einfachen Regeln oder immer die gleiche Beilage dazu. Wenn ich doch weiß, dass ich gerade eine Schadensmeldung aufgrund eines Sportunfalls von diesem Kunden hatte – Warum biete ich diesem nicht direkt eine Versicherung für seine Brille oder eine Sportzusatzversicherung an? Heute ist die Antwort, dass diese Zusammenhänge in der Masse nicht hergestellt werden können. Die Versicherung von morgen sollte die Lebenswelt Ihrer Kunden vollständig abbilden – Beginnen muss man damit beim Input-Management. 

 
Matthias Blum: Was müssen Versicherer ganz konkret operativ veranlassen, um die Optimierung ihres Input-Managements voranzutreiben? 

 
Nico Greiner: Sie müssen natürlich mit PPI erstmal eine Analyse zur Digitalisierungsquote im Posteingang machen. Wir referenzieren dann auf ein idealtypisches Modell und leiten gemeinsam Handlungsempfehlungen ab. Am Ende geht es darum, diese Quote so hoch wie möglich zu bekommen. Wenn man sich gut anstellt, kann man hier schnell sehr gute Ergebnisse erzielen. Über die potenziellen Kostenersparnisse habe ich bereits anfangs gesprochen. Der Einsatz von KI ist hier der absolute Standard. Die neuen Modelle tragen jetzt dazu bei, dass man noch einen Schritt weiter gehen kann.  

René Pausch: Vielen Dank für das schöne Schlusswort und das Interview, Nico. Unsere Botschaft an Versicherer heißt also: Bereit, wenn ihr es seid!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

88  +    =  89

Verwandte Artikel